Erschienen in: “Film Lehren”, herausgegeben von Béatrice Ottersbach, Bertz & Fischer Verlag Berlin, Februar 2013.
Ich habe immer geschrieben. Schon bevor ich schreiben konnte, habe ich ganze Hefte mit Schrift gefüllt. Wenn man vier Jahre alt ist, kann man so in einer Stunde ein ganzes Buch schreiben und hat später nicht mehr so viel Angst vor dem weißen Blatt. 1996 hatte ich Glück und ein linksabbiegender Kleintransporter übersah mich auf meinem Motorroller. Als ich im Krankenhaus wieder zu mir kam und merkte, dass ich meine Beine noch bewegen konnte, war mein erster Gedanke: super …. mein erstes Stipendium. Eine Woche später lag ich mit Gips und Apple im Bett und schrieb ein Drehbuch. Nach sechs Wochen war ich fertig. Es hieß 9-5 und war unglaublich schlecht. Aber es hatte Spaß gemacht, ich wollte weitermachen und studierte Drehbuchschreiben. Ich lernte viel über Wendepunkte, Heldenreisen, Fallhöhen, Obstacles, Character Mappings, Wants und Needs etc. Es gibt viele Werkzeuge in der Toolbox des Drehbuchschreibers. Das Handwerk muss gelernt und ein Leben lang geübt werden. Aber das ist es nicht, was das Schreiben, was das Drehbuchschreiben ausmacht und auch nicht, warum man Drehbuchschreiben studieren kann und soll.
Das Drehbuchschreiben unterscheidet sich von allen anderen Filmgewerken durch vieles, aber vor allem durch das Alleinsein des Autors oder der Autorin. Sie fängt allein an. Sie fängt mit Nichts an. Die Regie, die Schauspieler, die Kamera, das Szenenbild – sie alle haben ein Drehbuch, das sie umsetzen, an dem sie sich festhalten können. Filmemachen ist Teamarbeit, auch Drehbuchschreiben ist ein kollaborativer Prozess, an dem Produzenten, Redakteure, Regisseure und viele andere beteiligt sein werden. Aber der erste Anfang geschieht allein. Die Autorin schreibt auf ein weißes, leeres Blatt einen ersten Entwurf, ein Exposé. Ein Mensch, eine Idee, ein Anfang. Tatsächlich unterscheiden sich Autoren und Nichtautoren häufig durch genau diese Fähigkeit: auf drei leere Blättern eine erste Idee aufschreiben zu können. Für das Schreiben hängt alles daran: Wie kann ich die leeren Seiten füllen? Und damit an der Frage: Woher kommen die Ideen?
Vorstellungskraft
Poi piovve dentro a l’alta fantasia[1]
“Dann regnete es in die hohe Fantasie hinein.” Der italienische Autor Italo Calvino beginnt sein Buch Six Memos for the Next Millennium mit der Frage nach dem Ursprung der Vorstellungskraft. Eigentlich ist es kein Buch, das er so geschrieben hat, sondern eine Vorlesungsreihe, die Calvino 1985-86 in Harvard halten sollte und dessen Vorbereitung er über ein Jahr lang verfolgt hatte. Calvino starb am Abend seiner Abreise nach Harvard. Das letzte Kapitel der Vorlesungsreihe Consistency blieb ein Fragment. Calvino also wählte Dante für seine Ausgangsmeditation – aus dem zweiten Teil der göttlichen Komödie, dem Purgatorio, den Terrassen des Läuterungsberges.
Dort zwischen Hölle und Paradies finden wir die Imagination. Das lateinische (und englische) Wort trägt das Bild (image) in sich, imaginationem, auch halluzinieren. Auch im Wort Fantasie steckt das Bild: das griechische phantazesthai “ein Bild von sich selbst,” von phantos “sichtbar, es ist verwandt mit phaos, phos “Licht,” und phainein “zu zeigen, zu erleuchten“. Ein Bilderregen, eine Erleuchtung, die vom Himmel in den Menschen fällt. Auch der deutsche Ein-fall verweist darauf. Eine anderes deutsches Wort dagegen, die Vorstellungskraft oder die Einbildungskraft deutet auf die eigene Kraft, etwas mit dem eigenen Willen und Muskeln herzustellen, etwas vor-zu-stellen oder ein-zu-bilden.
Grundsätzlich gibt es zwei Möglichkeiten, auf die Frage nach dem woher der Vorstellungskraft zu antworten: von innen oder von außen. Existieren die Bilder ohne unser Zutun oder entstehen sie in und durch unsere seelisch‐kognitiven Individualität, unsere Vorstellungs-Kraft?
Beide Positionen werden vertreten, für das Erzählen vielleicht am klarsten abzugrenzen über die beiden Psychologen C.G. Jung und Sigmund Freud. Jung, der Schweizer Pfarrerssohn und Freud, der Jude aus Wien. Beide sind der Ausbildung nach Mediziner.
Von Jung stammt die Idee des kollektiven Unbewussten, das uns angeboren ist. Alle Erzählung beruht auf einem Mythos, der immer wieder erzählt wird.
Nach seiner Vorstellung gibt einen Kanon von Archetypen, wie die weise Frau, den Schatten, Anima, Animus, den Trickster etc, die gewissermaßen genetisch in uns verankert sind und die eine Art Monomythos formen, den wir nicht erlernen, sondern mit dem wir geboren sind. Nach Jung sind Archetypen universell vorhandene Urbilder in der Seele aller Menschen, unabhängig von ihrer Geschichte und Kultur.
In der Filmdramaturgie spielt Jung eine hervorragende Rolle mit seinem Einfluss auf den amerikanischen Mythenforscher Joseph Campbell und dessen Konzept vom Hero with a Thousand Faces. Campbells Monomythos wurde durch den Disney-Executive Christopher Vogler[2] zu einem Drehbuchstandard: der sogenannten Heldenreise. Sein Monomythos erzählt von dem Helden als jungem Mann, der seine (Tag)welt verlässt, dem Dämon in der (Nacht)-welt das Elixier entreißt und es in die Tagwelt zurückbringt. Praktisch alle Disneyfilme, die Starwarstriologie und vieles mehr beruhen auf diesem Erzählmuster.
Eine andere Heldenreise, ein anderer Monomythos (und schon deshalb kann man eben auch nicht von einem Mono-Mythos sprechen), der fast gleichzeitig aus der Schule der Psychoanalyse heraus entwickelt wurde, stammt von Otto Rank[3]. Sein Held ist das (oft im Weidenkörbchen) ausgesetzte (Königs)-kind, das von einfachen Menschen großgezogen wird und das als junger Mann seinen ihm eigentlich zustehendem Platz auf dem Thron zurückerobert. Der Heldengeschichte von Rank hört also, was das Alter des Helden betrifft, genau da auf, wo die von Campbell/Jung beginnt. Rank deutet seine Mythentheorie mit Freud psychoanalytisch, Jung seine Archetypen religiös. Es lohnt sich vielleicht noch einen Blick auf die Rechtfertigungsmythen[4] werfen– also dem Monomythos von der die Ausstoßung oder Tötung der Frau. Der Mythos erzählt typischerweise von der schrecklichen und grausamen Erdmutter, die ihre Kinder umbringt und schließlich von ihrem heldenhaften Sohn getötet oder verbannt wird. Bei den Azteken beispielsweise lebte die grausame Mutter in dem Feuersteinmesser fort, mit dem den Opfern im Ritual das Herz herausgeschnitten wird.[5]
Was hat nun das Feuersteinmesser mit dem Drehbuchschreiben zu tun? Es zeigt uns, dass wir im Mythos – in der Erzählung – Ängste, kollektives Trauma und Neurose verarbeiten. Die Erzählung ist – im weitesten Sinne – politisch und nicht religiös.
Die Quelle der Erzählung liegt in uns, in unserem Bedürfnis nach Trost durch Erzählung. Das ist das Geheimnis universellen Erzählens. Wiederholung des Traumas durch Erzählung, Wiederholung als Trost. Aus dem Trauma des Zweiten Weltkriegs entstand der Film Noir, aus dem Wertverlust der eigenen Zivilisation der Western, die Screwball Comedy aus dem (naja) Trauma Emanzipation, der Thriller aus dem Trauma des Kalten Kriegs etc. Und daraus ergibt sich auch die Aufgabe des Drehbuchschreibers: den kollektiven Traumata von Heute nachzuspüren und sie in eine Geschichte zu übersetzen.
Für Freud, den Kokainisten, der sich rühmte, als junger Mann jedes Buch, das er einmal gelesen hatte, wortwörtlich wiedergeben zu können, der 20 Zigarren am Tag rauchte und dem der Krebs am Ende Gaumen und Unterkiefer weggefressen hat, sind im Wesentlichen Libido, Aggression und unbefriedigte Wünsche die Triebkräfte der Vorstellungskraft. Er schreibt: „Man darf sagen, der Glückliche phantasiert nie, nur der Unbefriedigte. Unbefriedigte Wünsche sind die Triebkräfte der Phantasien, und jede einzelne Phantasie ist eine Wunscherfüllung, eine Korrektur der unbefriedigenden Wirklichkeit.“ [6]
Das Unbewusste nach Freud – spezifisch formuliert später von dem französischen Psychoanalytiker Jacques Lacan – ist an das Sprechen und in soweit an das Bewusstsein gekoppelt. Auch in Freuds Traumdeutung[7] gilt in erster Linie das Wort. Die Analyse des Traumbilds erfolgt über seine sprachliche Verknüpfung. Und das scheint mir auch zwingend zu sein, denn das Traumgeschehen basiert auf der Es-Unterdrückung durch das Überich. Und das Überich kennt kein anderes Medium, als die Sprache. Folglich wird im Traum Sprachliches ins Bildhafte verschoben und dann in der Traumanalyse wieder versprachlicht, um so der eigentlich unterdrückten Wunschvorstellung auf die Spur zu kommen.
Dinge des Alltags fallen aus dem Regal und werden im Traum wieder in eine Linearität gebracht, lesbar gemacht. Der Traum ist die Urform der Erzählung, ist die Wiederherstellung der Ordnung. Ohne Träume keine Erzählung, ohne Trauma keine Träume. Die Melancholia ist der Stoff, aus dem die Träume sind, von dort stammt die Vorstellungskraft, von dort regnet es in die hohe Fantasie: so beim dänischen Schriftsteller H.C. Anderson und seiner kleinen Meerjungfrau, bei Kafkas Büchern, David Finchers / Chuck Palahniuks Fight Club, Tarkovskys Filmen, bei Lars van Trier, David Lynch…die Beispiele könnten endlos sein. Sie alle erzählen in einer Fabel eigentlich von etwas Anderem. Etwas Unsagbarem. Die Erzählung von Tyler Durden und dem namenlosen (sic!) Erzähler, den Edward Norton in Fight Club spielt, kann als Abspaltungsfantasie eines spätkapitalistischen Stadtpsychotikers gelesen werden, die kleine Meerjungfrau als die verkleidete Sehnsucht des homosexuellen Dichters Tarkowskys mythische Welten fliehen vor dem sozialistisch-realistischen Kino der Sowjetunion in die Tiefenpsychologie des mythischen Raums und beschreiben gleichwohl das Trauma der Gulags, des Kriegs, der Auslöschung des Einzelnen in der Kollektivordnung usf.
Das Handwerk des Drehbuchschreibens kann jeder lernen, aber Schreiben kann nur, wer die Gabe hat, Trauma und Neurose in Erzählung zu verkleiden, in einem Traumbild zu verstecken – meist unbewusst im eigenen Sublimieren. Wer Drehbücher scheiben will, muss die Melancholie kennen. Alles Geheimnis (auch und gerade das der Komödie!) liegt in dem Phänomen der Isolation, der inneren Zeit, des Körperbewusstseins, alle Ideen entstammen der Melancholia, den Saturninen, dem Weltschmerz. Und das gilt insbesondere für den Film, für das kollektives Träumen im dunklen (nachtschwarzen) Kinosaal, Hollywood ist die Traumfabrik. Und klug gewählt hat Steven Spielberg den Namen seiner Produktionsfirma: dream works, das beides bedeutet: Traumarbeit und Traum funktioniert.
Nun mag sich der Leser fragen, ob man -in diesem Sinne- Drehbuchschreiben überhaupt studieren kann. Oder will. Zum Wollen kann ich nur raten – es gibt kaum ein Studium, das glücklicher macht, als das Drehbuchstudium. Im Drehbuchstudium liegt niemand auf der berühmten Couch, sondern lernt, mit seinen oder ihren unbewussten Ressourcen zu arbeiten. Dazu gehören zum Beispiel Schreibübungen, Drehbuchaufstellungen, Kreativitätstechniken, Schauspielübungen, Zeichnen, Improvisationstheater. Wir lernen unserer Kreativität zu vertrauen und Geschichtenerzählen als Prozess zu begreifen, nicht als Konstruktion.
Dramaturgie
Das ist das eine: die Vorstellungskraft. Jetzt haben wir eine Idee und wissen auch woher sie kommt. Das andere aber ist: die Dramaturgie. Vorstellungskraft und Traumerzählung sind nicht identisch mit der Kunstform der Erzählung oder des Drehbuchs. Wie alle Verlaufskünste muss Erzählung strukturiert sein. Das Erfinden von geeigneten Ordnungsgesetzen ist eine der wesentlichen künstlerischen Herausforderungen für den Autor und die Autorin.
Die Frage, wie ich etwas erzähle, hat ungeheure Auswirkungen auf das was ich erzähle und welche Wirkung ich damit erzielen möchte. Nehmen wir beispielsweise die bekannte Geschichte von dem Mops, der in die Küche kam und dem Koch ein Ei stahl. Die Geschichte kann z.B. aus der Perspektive des Mopses erzählt werden, der dieses Ei unbedingt braucht, um seinem alten Vater zu beweisen, dass er auch ein Mops mit dicken Eiern ist. Zu Hause sitzen seine Frau und sein kleiner Sohn, die ihn anflehen, nicht zu gehen, aber der Mops muss tun, was ein Mops tut muss … er schleicht in die Küche, unter größten Gefahren holt er das Ei, der Koch entdeckt ihn … wilde Flucht und Verfolgung. Dem Mops gelingt es, in letzter Sekunde mit dem Ei zu entkommen … er hat es geschafft. Er ist glücklich. Zum ersten Mal spürt er so etwas wie ein Selbstwertgefühl. Sein kleiner Sohn schaut ihn bewundernd an…und in diesem Moment trifft ihn die tödliche Kelle des Kochs im Flug und er stirbt vor den Augen seines Kindes. Eine Möglichkeit. Eine andere Möglichkeit: Wir zeigen den Koch, der von seinem Chef angebrüllt wird, schneller und billiger zu kochen. Wir zeigen die hungernden Möpse, die sich an der Mülltonne, um die Abfälle prügeln. Wir zeigen den Mops und sein ausgemergeltes Kind. Wir zeigen superdünne Frauen in hautengen Designerklamotten und gebräunte Businesstypen, die aus dicken Limousinen vor dem Restaurant vorfahren. Wir zeigen, wie sie feines teures Essen bestellen, von denen die Frauen nur ganz ganz wenig essen und den Rest zurückgehen lassen. Wir zeigen den Mops, der versucht, das Ei zu stehlen, den Koch der verzweifelt zuschlägt. Wir zeigen den Koch, der über dem toten Mops weint. Wir zeigen die Beerdigung des Mopses und die geballten Fäuste der zahllosen Möpse. Sie sehen entschlossen aus. Eine andere Möglichkeit. Der gleiche Plot, aber eine andere Story.
Wer Drehbuch studiert, muss sich mit diesen Fragen auseinandersetzen. Was erzähle ich? Warum erzähle ich das? Und warum erzähle ich es so und nicht anders? Wie kann meine Idee in die richtige Form bringen? Das ist die Kunst.
Im Filmgeschäft begegnet mir häufig der Wunsch, dass die Geschichte Gefühle erzeugen soll. Das Drehbuch soll “emotional berühren”, den Leser bewegen. Der Zuschauer soll sich mit der Hauptfigur identifizieren. In diesem Falle wünschen sich die Betreffenden ein Drama. Die überwältigende Mehrheit aller Film-und Fernsehfilme sind Dramen oder wollen es sein. Mit dem Begriff Drama wird in der Umgangssprache häufig ein Filmgenre bezeichnet, in dem es im weitesten Sinne um Veränderungskrisen geht. Dramaturgisch gesprochen, ist das Drama aber viel mehr – oder weniger, je nachdem von welcher Seite man es betrachtet. Es ist nicht leicht, ein wirklich gutes Drama zu schreiben, aber wenn es gelingt, dann hat der Zuschauer keine andere Wahl, als sich mit der Hauptfigur zu identifizieren. Dann durchlebt und durchleidet er zusammen mit der Hauptfigur die gesamte Geschichte als wäre es sein eigene.
Was ist also ein Drama? (altgriech. δρᾶμα dráma Handlung) Die erste Antwort darauf gab um 335 v.u.Z. der griechische Philosoph Aristoteles. Sie lautet im Prinzip, das Drama ist eine Form, die wie folgt aussieht: Es gibt einen Protagonisten. Der Protagonist hat eine Charakterschwäche (Hamartia). Hamartia leitet sich vom griechischen hamartanein her, einem Verb, das sich auf einen Bogenschützen bezieht, der sein Ziel verfehlt hat. Nicht getroffen. Daneben geschossen. In der zeitgenössischen Dramaturgie wird der Begriff etwas weiter als Charakterfehler, als flaw aufgefasst. Der Protagonist verfolgt ein Ziel – und zwar ein konkretes, sinnliches Ziel, a visible tangible goal. Das Drama erzählt uns, wie der Protagonist sein Ziel erreicht oder nicht erreicht. Und nichts anderes. Das Drama ist durch (mindestens) zwei Wendepunkte in drei Akte geteilt. Ein Wendepunkt – die Perepeteia – ist ein Glückswechsel: ein Umschlag von Glück zu Unglück oder von Unglück zu Glück. Nach dem ersten Wendepunkt geschieht nichts mehr, was nicht durch den Protagonisten verursacht wurde. Am Ende des zweiten Akt muss sich der Protagonist seiner Charakterschwäche stellen, bzw. seinen Irrtum erkennen (Anagnorisis). Der Protagonist trifft am Ende des zweiten Akts eine Entscheidung zwischen zwei gleichwertigen Möglichkeiten (Dilemma). δί-λημμα heisst wörtlich: Doppelter – Vorschlag. Entweder/Oder. Und schließlich das wichtigste: Der Protagonist braucht ein starkes Motiv. Das Erreichen des Ziels muss aus der Sicht des Protagonisten existenziell sein. Die Stärke eines Dramas beruht nicht auf dem Ziel, sondern auf dem Motiv des Protagonisten. Oder wie es mein Professor seinerzeit treffend ausdrückte: Wer seine Figuren nicht motivieren kann, muss die Finger vom Drama lassen. Das klingt zugegebenermaßen nicht nach einer schlanken, eleganten Definition, sondern nach einem zwanghaften Regelwerk. Anderseits: es braucht nur wenig mehr als zehn Punkte, um eine Form zu schaffen, die die Macht hat, die Welt zu verändern.
Man unterscheidet das Drama in Tragödien und Komödien. In der Tragödie stirbt der Held (oder blendet sich wie Oedipus), in der Komödie geht es gut aus. Dramaturgisch gesprochen muss die Komödie also nicht lustig sein.
In der tragischen Form ist der handelnde Protagonist der Täter. Ihm wird nichts angetan, er tut es – er macht den Fehler, er macht sich schuldig und weil wir mit ihm identifiziert: wir mit ihm. Der Held verfolgt sein Ziel, wir verstehen seine Motive, sein Handeln ist kausal für das Eintreten der Katastrophe am Ende des zweiten Akts. Hier steht der Held vor seinem berühmtem Dilemma. Er muss sich entscheiden zwischen zwei gleichwertigen Möglichkeiten. Ein Verlust wird zwingend zu beklagen sein und er wird im Vordergrund stehen. Das ist der Preis. Das muss er opfern. Oder wie es in zeitgenössischen Dramaturgie heißt: what’s at stake? Weil Agammemnon unbedingt nach Troja will, verliert er seine Frau, seine Familie. Wenn Selma Ježková (Dancer in the Dark, Lars van Trier) möchte, dass ihrem Sohn eine Augenoperation bezahlt werden kann, dann wird sie hingerichtet. Das ist ihr tragisches Dilemma: Ihr Sohn wird sehen, aber seine Mutter wird gehängt werden, oder er wird blind werden, genau wie seine (überlebende) Mutter. Eine Entscheidung zwischen zwei gleichwertigen Möglichkeiten – aus der Perspektive der Hauptfigur.
Der Verlust steht im Vordergrund jeder getroffenen Entscheidung. Deshalb entscheiden wir uns so ungern. Wir hatten alle Möglichkeiten – jetzt haben wir eine Möglichkeit nicht mehr. Nie wieder. Das Dilemma am Ende des zweiten Akts dreht den verantwortlich handelnden Protagonisten vom Täter in die Rolle des Klagenden – denn jetzt hat er einen Verlust zu beklagen. Die identifikatorische Kraft des Dramas zwingt den Zuschauer diesen Verlust mitzubeklagen in der vollen Schönheit des kathartischen Rausches. Die Männer im antiken Theater im Opferglück: weinend und schreiend – endlich befreit von der Last der Schuld, sind sie dem eigenen Trauma therapeutisch begegnet. Es kommt also darauf an, in einer dramatischen Fabel den Zuschauer entweder (noch einmal) ins Trauma zu schicken, um ihn dann mit den Kräften auszustatten, die er braucht, um in der Realität, die Zustände zu beseitigen, die ihn traumatisieren (das wäre die Komödie, die Opferfabel), oder ihn aber mit dem Zuschauer noch einmal die Schreckenstat begehen zu lassen. Dann muss er sich entscheiden zwischen Untergang oder Schuldanerkenntnis (das wäre die Tragödie – die Täterfabel).
Aber nicht alle Erzählung ist dramatisch. Ein Beispiel ist zum Beispiel ein Narrativ, das Wissen generiert, speichert und vermittelt. In der Frühzeit, als die wenigsten Menschen über Schrift und geschriebenes Wissen verfügten, wurde alles Wissen durch Beispiel, Gleichnis und Erzählung vermittelt. Das Alte Testament, also die jüdische Tora, bzw. der Tanach ist zum Beispiel deshalb so erzählerisch, weil es ein Wissen vermitteln will und in der Regel auf mündliche Überlieferung angewiesen ist. Die Urchristen nannten den Text sinnigerweise „Schrift“ oder „Schriften“ (griech. γράμμα (gramma), γραφή (graphē)), manchmal abgekürzt „Gesetz“ (griech. νόμος (nomos) für hebr. תוֹרָה – Tora). Aber das Buch der Bücher wurde in der Regel nicht gelesen, sondern vorgelesen. Es sind Gleichnisse, Beispiele, Geschichten und so konnten die Menschen das Gehörte begreifen und sich merken.
Oder auch mein Beispiel weiter oben. Der Satz: “Die Frage, wie ich etwas erzähle, hat ungeheure Auswirkungen auf das, was ich erzähle, und welche Wirkung ich damit erzielen möchte,” ist abstrakt und im Zweifel hat der Leser noch keine rechte Idee, was damit nun gemeint ist. Die Erzählung aber – das Mops-Beispiel – schafft Bilder und Wissen. Das Narrativ dient hier nicht dem Begreifen und Speichern, sondern es generiert Wissen. Jetzt erst, mit dem Beispiel, ist der Gedankengang für den Leser erfahrbar. Erzählung hat eben manchmal auch diese Funktion: die Welt zu beschreiben und erfahrbar zu machen. In diesem Falle geht es nicht um Emotionen und Identifikation, sondern um Denken und Verstehen. Diese Form der Erzählung ist nicht-dramatisch und wird in der Dramaturgie häufig episch genannt. Das epische Erzählen ist in diesem Sinne von dem Theaterautor und Dichter Bertolt Brecht[8] beschrieben worden, der den Begriff des epischen Theaters prägte und die dramatische Form ablehnte, weil sie den Zuschauer davon anhält, über die reale Welt nachzudenken und Missstände zu beseitigen.
Wer Drehbuch studiert, lernt mit Strukturen und Formen zu arbeiten. Ich muss mich als Autorin immer fragen, ob ich meine Zuschauer mit meiner Hauptfigur identifizieren möchte und sie auf eine katharische Reise schicken möchte, oder ob ich möchte, dass sich meine Zuschauer den Film anschauen, ohne sich zu identifizieren und deshalb, die Geschichte als Ganzes betrachten und bedenken. Ein Film also wie The Godfather von Mario Puzo und Francis Ford Coppola, den man umgangssprachlich eher als episch bezeichnen würde, ist eigentlich das Drama von Michael Corleone – eines tragischen Helden. Während Das Weiße Band von Michael Haneke, ein Film, den manche Menschen vielleicht ein Drama nennen würden, tatsächlich ein epischer Film ist. Emotional – zweifellos. Beklemmend. Aber wir sind nicht mit der Erzählerfigur identifiziert. Haneke kam es nicht darauf an, uns mit dem Lehrer eine spannende Verbrechensaufklärung erleben zu lassen. Er wollte auf die Bedingungen der deutschen Gesellschaft am Vorabend des Ersten Weltkriegs verweisen, die letztlich zum Dritten Reich und zum Holocaust führten. Er wählte eine epische Form.
Das Begriffspaar episch / dramatisch beschreibt die zwei reinen Formen. Die überwiegende Anzahl der Filme und Drehbücher ist jedoch weder rein episch, noch rein dramatisch, sondern bedient sich beider Formen, mischt. Das Epische ist ja auch von Hause aus eine freie Form. Unter seinem Namen lässt sich jedes Ordnungsgesetz subsummieren, das nicht (rein) dramatisch ist: Tandem Narratives, Parallel Narratives, Flashback Narratives, Hybriddramen, mit denen im Bereich des interaktiven Erzählens experimentiert wird uvm. Manchmal wird etwas ungenau von non-linearem Erzählen gesprochen, weil die Linearität den Zuschauern, den Gamern, wie den Intellektuellen, suspekt geworden ist. Die Form ist politisch. Auch wenn ich nur unterhalten möchte, treffe ich eine Entscheidung: ablenken statt hinlenken. Beides hat sein Recht und seinen Platz. Ein Drehbuchstudium hat die Aufgabe, angehende Autoren mit dem Wissen und dem Bewusstsein auszustatten, ihre Geschichten auf ihre Wirkung hin zu überprüfen.
Wenn Sie Drehbücher schreiben, können Sie die Menschen zum Lachen und zum Weinen bringen und auf die Barrikaden. Sie können Geschichte schreiben.
Es gibt nur wenig Texte, die so intensiv gelesen werden, wie ein (abgenommenes) Drehbuch. Abgenommen nennt man ein Drehbuch, wenn der Produzent und seine Geldgeber – das sind zumeist die Fernsehredaktionen und die Filmförderungen beschlossen haben, dass dieses Drehbuch jetzt verfilmt wird. Dann wird jedes Wort Gesetz und Gebot. Wenn im Drehbuch steht „es regnet“, dann bestellt der Herstellungsleiter die Feuerwehr und lässt es regnen. Wenn da steht „dreißig Samurai reiten auf schwarzen Pferden auf den Alexanderplatz“, dann schneidert das Kostümdepartment die Kostüme, die Pferde werden bestellt, die Ausstattung schafft Säbel herbei, der Produktionsleiter sperrt den Platz ab usw. Einige beginnen unterdessen das Drehbuch auswendig zu lernen, ganze Gruppen treffen sich, um es gemeinsam zu lesen. Jedes Gewerk eignet sich das Drehbuch an und macht es zu seinem Drehbuch. Die Kamera übersetzt das Buch in Kameraeinstellungen, die Regie richtet die Szenen ein … aus einem Drehbuch werden viele Drehbücher. Und dann verschwindet es bald ganz. Der Film ist abgedreht, der Filmeditor montiert das gedrehte Material. Das Produktionsbüro räumt auf, die überlebenden Pferde werden zurückgebracht, der Regen ist getrocknet, die Samuraikostüme kommen in den Fundus … und die Drehbuchseiten ins Altpapier. Manch einer behält seine beschriftete und zerfledderte Kopie – aus Sentimentalität. Und dann geht der Kinovorhang auf und der Film beginnt. Und währenddessen sitzt die Autorin schon wieder allein vor einem weißen Blatt, beginnt ein neues Projekt, eine neue Idee und hofft, dass es ihr bald in die hohe Fantasie hineinregnet.
Der französische Drehbuchautor Jean-Claude Carriere [9] hat einmal geschrieben, dass das Drehbuch ein Übergangsmedium ist, “eine flüchtige Form, die dazu bestimmt ist, sich zu verwandeln und schließlich zu verschwinden, so wie aus der Raupe ein Schmetterling wird.”
So ist das. Magisch. Traumhaft.
[1] Dante, Purgatorio XVII, 25
[2] Christopher Vogler, The Writer’s Journey: Mythic Structure for Writers
[3] Otto Rank, Der Mythos von der Geburt des Helden
[4] Joan Bamberger,’The Myth of Matriarchy
[5] ausführlich und mit vielen Beispielen: Marilyn French, Jenseits der Macht, rororo 1990, S. 69ff
[6] Freud, Der Dichter und das Phantasieren
[7] Von Freud stammen die drei Termini der menschlichen Erlebensstruktur: ES, Ich, Überich. Das ES besteht aus triebhaften Strukturen, die wir nur unbewusst wahrnehmen und die aber gleichwohl unser Handeln leiten. Hunger, Sexualität etc. Das Überich bezeichnet jene psychische Struktur, die uns anerzogen ist: Handlungsnormen, Rollen- und Weltbilder. Es ist unser Gewissen, bestimmt unsere Vorstellungen von Gut und Böse – und es unterdrückt ständig das ES. Das Überich ist verantwortlich für Verdrängen von den Wünschen, die das ES ständig produziert. Das Ich ist das Denken, die Ratio und versucht ständig in dem Ringen zwischen ES und Überich auszugleichen.
[8] Bertolt Brecht, Schriften zum Theater, Kleines Organon für das Theater
[9] Carrière, Jean Claude & Pascal Bonitzer: Praxis des Drehbuchschreibens. Über das Geschichtenerzählen