Year: 2001

Format: Video

Duration: 58:30 min

Am 9.11.1989 fällt in Berlin die Mauer. Es ist das Ende vom Ende des Ostblocks. Doch angefangen hat alles viel früher – nämlich 1929 mit einer Geburt in Litauen, 1963 mit einer Hochzeit, 1971 mit einer Beerdigung und schließlich 1980 mit einem Streik. Es ist der 14.8.1980, als auf der Danziger Leninwerft die Arbeiter die Arbeit niederlegen. Sie fordern die Wiedereinstellung ihrer Kollegin, der Arbeiterführerin Anna Walentynowicz.

1980 titelte der SPIEGEL zweimal mit den Ereignissen in Polen. Lange Reportagen, Fotos von den Führern – alle ordentlich beschriftet: Walêsa spricht mit Werftdirektor Gniech etc. Ein Foto fiel mir auf, eine Frau (nämlich Anna Walentynowicz), die zu einer Menschenmenge auf der Werft spricht. Es war untertitelt mit “Arbeiterin antwortet Werkdirektor Gniech”. Ihr Name taucht im “Spiegel” nirgendwo auf. Ich begann zu recherchieren und erfuhr so von Anna Walentynowicz, der wahren Gründerin der polnischen Gewerkschaft Solidarnosc.

Anna Walentynowicz wird 1929 als Anna Lubczyk in Polen an der litauischen Grenze geboren. Über ihre Kindheit spricht sie nicht viel. Ihre Eltern sterben früh, sie wächst als Waise auf, “die Litauer und die Ukrainer haben viel gemordet”.  1945 kommt Anna nach Gdañsk. Die Strassen, der Bahnhof, die Geschäfte sind deutsch beschriftet. Anna, die Analphabetin ist, fühlt sich zum ersten mal nicht benachteiligt: denn niemand unter den polnischen Flüchtlingen kann die fremde Schrift lesen.

Anna findet Arbeit auf der jungen Werft. Die Kommunisten behandeln sie wie einen Menschen, sie lernt lesen und schreiben. Anna wird die Vorzeigearbeiterin der Danziger Leninwerft, “Heldin der Arbeit”, Delegierte der Werft zu den Arbeiterbestentreffen in Warschau. Sie liebt ihre Arbeit und die Werft ist für sie, die seit ihrem 7. Lebensjahr Vollwaise ist, zur Ersatzfamilie geworden. Sie lebt mit ihrem Sohn Janusz in einem heruntergekommenen Arbeiterwohnheim. Doch Anna ist voller Elan und Lebenslust.

Alles ändert sich, als sie erfährt, daß sie Krebs hat. Nur noch fünf Lebensjahre geben ihr die Ärzte. Anna, die ihren Sohn nicht allein zurücklassen will, nimmt deshalb den Heiratsantrag des Trompeters und Werftschlossers Kasimir Walentynowicz an, obwohl sie ihn nicht liebt. Doch “diese Ehe der Vernunft, wandelt sich in eine große Liebe”. Anna erlebt die glücklichste Zeit ihres Lebens. Fünf Lebensjahre.
1971 läuft die Fünfjahresfrist ab und ein Mensch muß gehen.

Doch es ist nicht sie, sondern Kasimir, der völlig überraschend stirbt. An Krebs. Bei Anna können die Ärzte dagegen keine Tumore mehr entdecken. Der Tod Kasimirs trifft Anna Walentynowicz schwer. Sie ist jetzt 42 Jahre alt und verliert die Liebe ihres Lebens. Die Frage, warum Gott sie hat leben lassen und statt ihrer den Ehemann zu sich nahm, läßt sie nicht mehr los. Als sie bei Kasimirs Totenmesse in der Kirche die Figur wiederentdeckt, die ihr als Kind in Litauen im Traum erschienen ist, ein Apostel, der eindringlich zu ihr sprach, ohne, daß sie ihn verstehen konnte, hat sie ihre Antwort gefunden.  “Gott hat Absichten mit mir.”

Anna beginnt ihre Arbeit: sie hilft Kranken und Familien in Not, sie setzt sich auf der Werft für bessere Arbeitsbedingungen und unabhängige Gewerkschaften ein. Schon ein Jahr nach Kasimirs Tod ist Anna zu einer bekannten Arbeiterführerin geworden. Im ständigen Konflikt mit dem Staat. Immer wieder verhaftet, überwacht, unter Druck gesetzt.

Am 14.8.1980 wird Anna, deren Gesicht einst von den Propagandaplakaten der Werft lachte, unter einem Vorwand fristlos gekündigt. Die unbequeme Politikerin soll endgültig mundtot gemacht werden. Spontan legen ihre Kollegen die Arbeit nieder. Schließlich löst ihre Entlassung eine landesweite Protestwelle aus und Anna Walentynowicz gründet mit den streikenden Werften die erste freie Gewerkschaft des Ostblocks: Solidarnosc. Den Vorsitz der neuen Gewerkschaft übernimmt allerdings nicht sie, sondern ein Mann, der ehemalige Werftelektriker Lech Walêsa – mit Annas Unterstützung: “Leute! Wenn dieser Streik von einer Frau geleitet wird, dann wird die Bedeutung der Sache niedriger sein und es wird nicht leicht sein, wenn nötig, einen zweiten Streik zu führen. Ich hätte ja nie gedacht, daß Walêsa so ein Schwein ist.”

Doch die Freude über die neue Freiheit währt nur kurz. Die Sowjetarmee und die deutsche NVA halten an der polnischen demonstrativ Manöver ab. Ein zweiter Prager Frühling droht und mit der NVA stehen wieder deutsche Panzer vor dem Einmarsch nach Polen. Das Land reagiert.
In Polen wird das Kriegsrecht ausgerufen. Solidarnosc wird verboten, Anna verhaftet. Während sie die nächsten Jahre unter schrecklichen Bedingungen und unter Lebensgefahr im Gefängnis verbringt, erfährt sie, daß Walêsa mit den neuen Machthabern kooperiert und sogar zum Oberst befördert wurde.

1983 wird Anna Walentynowicz aus der Haft entlassen und eine Woche später, am 5.Oktober 1983, erhält Lech Walêsa den Friedensnobelpreis.

Am 10. April 2010 gehörte Walentynowicz zu einer polnischen Delegation um Staatspräsident Lech Kaczyński, die anlässlich des siebzigsten Jahrestages des Massakers von Katyn zur Gedenkstätte nach Russland reisen sollte. Bei einem Flugzeugabsturz der Delegation nahe dem Militärflugplatz Smolensk-Nord kam sie jedoch gemeinsam mit weiteren hochrangigen Repräsentanten Polens ums Leben.